Auf der Flucht


Ein kalter Schauer fuhr mir den Rücken hinunter. Mama weinte leise und Papa sagte verzweifelt: „Oh, nein! Geht das schon wieder los.“ Wir sitzen gerade vor dem Fernseher und gucken uns das Attentat in Paris an. Wir kommen gerade erst aus Syrien, wo wir 5 Jahre unter dem Bürgerkrieg gelitten haben. Als wir vor 3 Monaten in Nordfrankreich, in Lens, angekommen waren, dachten wir, wir wären in Sicherheit. Doch jetzt das. Ich habe Angst um meine Familie, da wir jetzt schon im zweiten Land sind, wo geschossen wird und Menschen umgebracht werden. Langsam denke ich an meine Freundinnen, mit denen ich jahrelang friedlich gespielt habe, und deren Familien nicht genügend Geld hatten, um zu fliehen. Liebend gerne hätte ich sie mit mir genommen.

 

Papa hat eine Stelle in einem kleinen Krankenhaus als Arzthelfer angenommen. Mama bleibt mit mir zuhause, weil sie keine Berufsausbildung hat. Immer wenn Papa abends von der Arbeit kommt, gucken wir die Nachrichten. Nur dieses Mal nicht. Mama sitzt auf dem Sofa und sieht den ausgeschalteten Fernseher an. Anscheinend denkt sie über etwas nach. Plötzlich sagt sie: „Der Fernseher bleibt erstmal aus. Ich ertrage das nicht mehr.“ Ich sehe, wie sie langsam anfängt zu zittern. Papa ist schon im Bett und schläft. Aber er schläft nicht gut. Er ist unruhig und bewegt sich ängstlich im Schlaf. Ich gehe auch ins Bett und überlege, was jetzt passieren wird. Ich bin auch unruhig. Die Angst, die ich habe, haben Mama und Papa auch; die Angst, dass die Terroristen zu uns kommen.

 

Am nächsten Tag verkündet Papa die Nachricht, dass wir nach Deutschland ziehen werden. Als Papa weg ist, gehen Mama und ich in ein Internetcafé. Dort suchen wir nach einer Wohnung. Plötzlich greift jemand nach Mamas Schulter. Erschrocken zuckt sie zusammen und dreht sich um. Vor ihr steht der Besitzer des Cafés und fragt, was sie da macht. Mama erklärt ihm, dass sie eine Wohnung in Deutschland sucht. Anscheinend hat der Besitzer es an unserer Hautfarbe und den Klamotten erkannt, denn er erklärt uns, dass Flüchtlinge hier nichts verloren haben und will uns rausschmeißen. Mama versucht ihm zu erklären, dass wir nur noch 30 Minuten brauchen. Da wird er laut und sagt, wir müssten jetzt gehen, sonst rufe er die Polizei. Weil er laut geworden ist, sehen uns jetzt alle misstrauisch an und wir gehen schnell. „So schnell geht es also“, denke ich mir. Jetzt sind sie schon bei uns.

 

Da wir unsere Pässe dabei haben, lassen Mama und ich ich noch schnell neue Passfotos machen. Wir hoffen beide, dass wir dort keine Probleme bekommen. Wir haben Glück. Die Leute dort sind nett und es dauert nur 5 Minuten, um alle Fotos zu machen.

 

Als wir zuhause sind, möchte ich den Fernseher einschalten. Gerade möchte ich nach der Fernbedienung greifen. „Aischa!“ ruft da eine Stimme. Schnell lasse ich die Fernbedienung fallen. Mama ist bleich im Gesicht und legt sich ins Bett. Mich schickt sie los, um etwas zu essen vom Bäcker zu holen. Sie gibt mir 15 Euro mit und ich gehe los. Als ich zurück bin, schläft Mama. Das Telefon klingelt und ich gehe dran. Es ist Frau Dupont, unsere Vermieterin. Sie fragt, ob es stimme, dass wir nach Deutschland wollen. Ich antworte, dass es stimmt, aber dass wir noch etwas Zeit brauchen. Mama wacht gerade auf, als wir das Gespräch beenden. Sie fragt mich und ich antworte, dass es Frau Dupont war. Mama war nicht mehr so blass und aß ein Brötchen, das ich ihr mitgebracht hatte. Die Zeit verging und es wurde Abend. Papa kam und erzählte von seinem Tag. Da klopfte es an der Tür. Papa macht auf und bittet Frau Dupont herein. Sie möchte noch mal alles mit Mama und Papa besprechen. Sie machen aus, dass wir noch ungefähr ein halbes Jahr bleiben werden, falls es keine Verzögerungen gibt.

 

Frau Dupont bringt mir manchmal Spielzeug von ihren Kindern mit. Heute übergibt sie mir ein tolles Springseil. Ich finde diese Frau toll, weil sie Flüchtlingen hilft. Es ist der 14.11.2015. Mein Geburtstag. Ich bin jetzt 12, doch das Einzige, das ich mir wünsche, aber nicht bekomme, ist der Frieden auf der Welt.Ich bekomme ein neues Paar Schuhe. Das war`s aber auch schon, da wir uns nicht mehr leisten können. Da prallt ein Stock oder etwas anderes gegen unser Fenster. Schnell verstecke ich mich hinter dem Sofa, denn ich habe Angst, es könnten Terroristen sein. Papa geht langsam zum Fenster. Er sieht einen Jugendlichen und atmet erleichtert auf. Es ist René, der Sohn unseres Nachbarn. Papa macht das Fenster auf und René fragt, ob er reinkommen darf. Wir lassen ihn rein und fragen, warum er nicht geklopft hat. Er antwortet, dass er nicht stören wollte, setzt sich hin und fragt, ob wir das mit Paris wissen. Ich antworte ihm und sage auch noch, dass wir nach Deutschland wollen. René guckt verdutzt, doch redet nach einer kurzen Pause weiter. Er erzählt uns, dass ein Freund von ihm dabei war, als das Attentat geschah. René redet gerne. Er erzählt uns jede kleine Einzelheit. Schnell schnappe ich mein Springseil und renne nach draußen. Jetzt reicht es! Ich kann es nicht mehr hören! Die Angst, dass die Terroristen zu uns kommen, wird immer größer. Ich brauche jetzt erstmal Ablenkung. Vor dem Gebäude springe ich erstmal Seil. Plötzlich höre ich, wie jemand nach mir ruft. Ängstlich drehe ich mich um und sehe 6 Jugendliche. Böse gucken sie mich an. Da sagen zu mir, dass ich bestimmt ein Flüchtling bin. Ganz leise antworte ich: „Ja“. Und dann bekomme ich einen Riesenschreck. Denn sie verlangen von mir und meiner Familie bis nächste Woche 150 Euro, sonst passiert uns was. Geschockt laufe ich in die Wohnung.Da ich ganz blass bin, erkennen Mama und Papa sofort, dass etwas mit mir ist. Sogar René ist besorgt und fragt, was los ist. Da platzt es aus mir heraus. Ich zittere beim Erzählen. Papa kann es nicht glauben, dass wir jetzt sogar bedroht werden. Da fragt René, ob einer von den 6 Jugendlichen eine schwarze Jacke anhatte, die hinten eine rote Flamme drauf hatte. Ich kann mich nur schwer daran erinnern. Aber ja! René beginnt unruhig zu werden. Dann erzählt er uns, dass er mal in einer Clique war, wo Jack, der Boss, alle herumkommandiert hat, um ihm das Leben gemütlicher zu machen. Bevor man in die Clique kommt, muss man einen Vertrag unterschreiben. In dem Vertrag steht, dass man der Clique immer treu sein muss. Außerdem erpresst Jack gerne, bekommt dadurch Geld und kauft sich damit die teuersten Sachen. Ich glaube das nicht. Wir haben so ein schlechtes Leben. Erst in Syrien und dann in Frankreich, wo es hier doch sonst immer so friedlich war. Tja, das hat sich wohl geändert. So langsam fühle ich mich nicht mal hier sicher.

 

René hat eine Idee. Er gibt uns die 150 Euro. Mama lehnt das ab, da sie nie möchte, dass wir in der Schuld anderer Menschen stehen. Papa zückt 100 Euro aus seiner Arbeitstasche und sagt, dass das alles ist, was er dazu beitragen kann. René bittet darum, uns wenigstens die 50 Euro zu geben. Da wird auch Mama weich. Sie willigt ein und dankt René für seine Hilfe. René isst noch bei uns, geht dann aber wieder zu sich in die Wohnung. Wir gehen schlafen. Aber ich schlafe nicht wirklich gut. In der Nacht habe ich einen Albtraum. Ich träume davon, dass die Terroristen nachts komme, meine Eltern als Geiseln nehmen und mich blutig zurücklassen.

 

Am nächsten Morgen bin ich froh, dass ich nicht blutig zurückgelassen wurde und meine Eltern noch da sind. Je mehr Tage vergehen, desto mehr freue ich mich auf Deutschland. Plötzlich höre ich Freudenschreie. Ich schaue aus dem Fenster und sehe drei Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Mama kommt zu mir und fragt, ob ich nicht mit den Mädchen spielen möchte. Ich nicke, nehme mein Springseil und laufe nach draußen. Überraschend freundlichen begrüßen sie mich und fragen, ob sie auch mal springen dürfen. Ich antworte: „Hallo, ja klar dürft Ihr springen.“ Ich übergebe ihnen das Springseil. Das eine Mädchen mit den etwas gelockten braunen Haaren verrät mir, dass sie Cloé heißt, ein anderes Mädchen, dass sie Jeanette heißt und die Dritte, die gerade Springseil springt, heißt Natascha. Ich sage, dass mein Name Aischa ist. Ich rechne mit Lachen, da kein Kind in Frankreich Aischa heißen wird. Doch sie lachen nicht und sind ganz normal. Jetzt weiß ich, dass das der Beginn einer guten Freundschaft ist. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass sie auch denken, dass wir Freunde werden können. Wir spielen noch 2 Stunden. Dann müssen wir nach Hause. Doch sie wohnen im gleichen Viertel wie ich. Vielleicht sehen wir uns noch mal.